17.11.2010
Autositze - das war gestern. Die Zukunft könnte ganz anders aussehen und ist Gegenstand einer Forschungsarbeit von Daniel Jarr. Der Promovend am Graduiertenkolleg "Kunst und Technik" an der TU Hamburg forscht an einer Entwicklung, die in Zukunft die Gestaltung von Fahrzeugsitzen prägen könnte. "Vielleicht gibt es in 30, 40 Jahren gar keine Fahrzeugsitze mehr", sagt Jarr und bürstet sich mit der Hand winzige weiße Kügelchen vom Jackett. Der Ingenieur kommt direkt von der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg, wo er gemeinsam mit einem Designstudenten Prototypen für Autositze aus Styropor baut.
Die Möglichkeit zu dieser fächerübergreifenden Zusammenarbeit erhält der Ingenieur im Graduiertenkolleg "Kunst und Technik". "Eine einmalige Chance", sagt der 29-Jährige, der sich schon während seines Maschinenbau-Studiums parallel mit Fahrzeuggestaltung und Produktdesign beschäftigt hat.
"Früher hat sich der Ingenieur um die technische Funktion gekümmert, und der Designer hinterher alles schön bunt gemacht", sagt Jarr, doch diese Grenzziehung sei manchmal auch ein Hemmnis bei der Entwicklung neuer Produkte. "Das Graduiertenkolleg ermöglicht mir, zu neuen Erkenntnissen zu kommen, die möglicherweise die Annäherung zwischen beiden Disziplinen bedeuten. Und grundsätzlich arbeite ich damit in einem jungen Zweig der Wissenschaft, in dem bisher erst wenige forschen" sagt der gebürtige Hamburger.
Jarr arbeitet mit einem speziellen Material: mit so genannten dielektrischen Elastomeren. Diese Kunststoffe haben die Eigenschaft, dass sie sich unter einer elektrischen Spannung in ihrer Gestalt verändern. Seit etwa zehn Jahren beschäftigen sich Wissenschaftler weltweit mit diesem neuartigen Material, darunter auch Forscher der NASA. "Es ähnelt tatsächlich ein wenig dem Raumfahrt-Material", sagt Jarr: "Gummi, das silbern reflektiert." Die Fähigkeit der dielektrischen Elastomere, sich selbst in immer neue Formen zu bringen, kann für die Polsterung eines Automobilsitzes benutzt werden. Heute ist man in Fahrzeugen Sitze gewohnt, die aus einem mit Stoff bezogenen Polster bestehen. Will man die Sitze der Körpergröße des Fahrer oder Beifahrers anpassen, wird der Rahmen des Polsters verstellt. Das funktioniert über Elektromotoren, Getriebe und Zahnräder, also über mechanische Elemente, die erstens viel Raum benötigen und zweitens schwer sind. Der Platz, den der Sitz für sich beansprucht, fehlt dem Passagier. Jarrs Fragestellung lautet: Warum sollte man nicht schon im Polster etwas einbringen, das sich verformen kann und das Gestell des Sitzes überflüssig macht?
Wie wird er also aussehen, der Autositz der Zukunft? "Da will ich mich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen", sagt Jarr. "Ich könnte mir vorstellen, dass in der Zukunft das Thema "Gewicht" in der Automobilbranche eine noch gravierendere Rolle spielen wird, weil es direkt an den Energieverbrauch des Fahrzeugs gekoppelt ist. Für die Variabilität des Innenraums wird ein möglichst schlanker Sitz gefordert sein und einer, der viele Verformungsmöglichkeiten bietet. Einer, der als flache Transportgrundlage genauso genutzt werden kann wie als Sitz, der sich auf Alter, Größe, Gewicht und Bedürfnis seines Benutzers einstellt. Darum kann ich mir vorstellen, dass der Autositz der Zukunft mit aktiven Materialien, möglicherweise sogar mit intelligenten Sensorsystemen ausgerüstet ist, die verschiedene Einstellungen ermöglichen." Das Ergebnis seiner Forschung könnte sogar Babyschalen und Kindersitze fürs Auto in Zukunft überflüssig machen. "Vielleicht gibt es später ja gar keine Fahrzeugsitze im herkömmlichen Sinn mehr", sagt Jarr, sondern nur noch eine Fläche vorne und eine hinten im Auto, die sich so ausformt, wie es gerade nötig ist."
Daniel Jarr ist einer von zehn Promotionsstipendiaten des an der TUHH seit 2005 angesiedelten und 2009 um weitere vier Jahre verlängerten Graduiertenkollegs "Kunst und Technik". Kunst, verstanden als Kulturwissenschaft, bezieht sich im Doktorandenkolleg auf Fragen der Gestaltung und der Wahrnehmung, während die Technik den jeweiligen Gegenstand, der im Zentrum der Forschung steht, im Blick hat. Das gemeinsame Forschungsinteresse der Doktoranden und ihrer fünf Professoren von der TU Hamburg, der Universität Hamburg sowie der Hafen City Universität ist die Bedeutung von Material und Form in Kunst und Technik. Die Inhalte der Forschungsprojekte , in dem Bauingenieure, Werkstoffwissenschaftler, Architekten, Literaturwissenschaftler, Kunsthistoriker und Volkskundler zusammenarbeiten reichen von "intelligenten" Autositzen über Recycling-Kunst über Raum und Atmosphäre in der Architektur und "anpassungsfähige" Tragwerke für den Hochhausbau bis hin zur Kulturtechnik des Fliegens.
Daniel Jarr präsentiert gemeinsam mit Kollegen des Promotionskollegs seine Forschungsarbeit am 23. November ab 18 Uhr im Foyer des Audimax II anlässlich der Ringvorlesung "Vom Nützlichen und Schönen - Begegnungen von Technik und Kunst". Thema des Abends ist "Bauen für die Kunst". Der weltbekannte Architekt Prof. Dr. h.c. mult. Meinhard von Gerkan spricht im dritten Teil dieser öffentlichen Vorlesungsreihe, die vom Graduiertenkolleg "Kunst und Technik" auf Initiative der jungen Kunstinitiative an der TUHH durchgeführt wird. Weitere Themen sind: "Standortfaktor Kunst" am 18. Januar 2011 mit dem Leiter der Deichtorhalle Hamburg Dr. Dirk Luckow und "Privatsammler und Museen" am 25. Januar 2011 mit Dr. Harald Falckenberg.
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