27.06.2022
Seit dem 1. Juni können Fahrgäste bis Ende August für neun Euro im Monat bundesweit auf allen Strecken und in allen Verkehrsmitteln des Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) reisen. Das verlockende Angebot hat auch seine Schwachstellen. So die Einschätzung von Christoph Aberle, Doktorand und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Verkehrsplanung und Logistik an der Technischen Universität Hamburg. Dort erforscht er den Zusammenhang von sozialer Exklusion und Mobilität. Mit einer qualitativen Befragung in Zusammenarbeit mit dem Hamburger Verkehrsverbund (hvv) möchten er und sein Team herausfinden, welche Auswirkungen das kurzfristige Angebot auf einkommensschwache Menschen hat.
Armut schränkt Mobilität ein
Bis Juli befragen Aberle und zwei Masteranden rund 30 Personen, denen monatlich weniger als 900 Euro netto im Monat zur Verfügung steht. Die TU-Forschenden möchten herausfinden, ob diese Menschen mithilfe des 9-Euro-Tickets verstärkt am öffentlichen Leben teilnehmen. Ihre bisherige Erkenntnis: Einkommensarme Menschen fahren kürzere Strecken und sind seltener unterwegs als Menschen mit höherem Einkommen.
Herr Aberle, was erhoffen Sie sich von der qualitativen Befragung?
Wir wollen die Daten aus quantitativen Befragungen, beispielsweise des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen, mit einem Fokus auf Menschen in Armut ergänzen. Die Antworten der Betroffenen helfen uns, soziale Ausgrenzung besser zu verstehen und daraus politische Maßnahmen zu entwickeln. Unser Ziel ist es, Mobilitätsarmut zu bekämpfen und Möglichkeitsräume für Betroffene zu eröffnen und zu erweitern.
Denken Sie, dass Menschen mit geringerem Einkommen den ÖPNV durch das 9-Euro-Ticket verstärkt nutzen?
Eindeutig ja. Eine Person, die „Hartz IV“ bekommt, hat nur 41 Euro im Monat für den Verkehr zur Verfügung. Die Mehrheit der Betroffenen überschreitet dieses Budget fast um das Doppelte. Demzufolge ist der ÖPNV für die meisten Menschen in Armut schlichtweg zu teuer. Zwar gibt es Möglichkeiten, für kleines Geld in Städten wie Hamburg mobil zu sein, dann muss ich mich aber den Sperrzeiten und Zonengrenzen unterordnen. Wir erwarten, dass viele Einkommensarme mit dem 9-Euro-Ticket sowohl in ihrem Alltag als auch in ihrer Freizeit verstärkt Bus und Bahn nutzen. Wobei der Tarif ja für alle hoch attraktiv ist.
Sollte es das 9-Euro-Ticket dann nicht dauerhaft geben?
Einkommensarme Menschen werden durch die kurzfristige Maßnahme deutlich entlastet. Sie können sich, was für viele Menschen selbstverständlich ist, uneingeschränkt und sorglos im Nahverkehr fortbewegen. Hier sehe ich einen absoluten Gewinn an Teilhabechance, den es zu verstetigen gilt, und zwar spezifisch für diese Zielgruppe.
Allgemein bewerte ich das 9-Euro-Ticket aus zwei Gründen kritisch. Erstens verfolgt diese kurzfristige Maßnahme keine strategischen Ziele. So bleibt etwa der Individualverkehr gegenüber dem ÖPNV weiterhin attraktiv – zumal gleichzeitig die Energiesteuer gesenkt wurde, die ohnehin durch die Inflation stetig an Wert verliert. Ein finanzieller Anreiz, mittelfristig den Autoschlüssel gegen die Abokarte einzutauschen, fehlt. Dabei bräuchten wir so eine strategische Rahmensetzung, um unsere Klimaziele einzuhalten.
Zweitens kann der pauschal günstige Preis die Botschaft transportieren, dass die Bereitstellung von Personenbeförderung ohne Aufwand erfolgt. Das ist schön für den einzelnen Fahrgast – aber ein falsches Signal, wenn es eigentlich darum gehen sollte, den Energiebedarf unserer Verkehrssysteme und Siedlungsstrukturen zu senken.
Weitere Informationen zum Thema Mobilität und soziale Ausgrenzung unter www.stadtarmmobil.de sowie unter www.mobileinclusion.de
TUHH - Pressestelle