Von der Kultur des Fliegens

TU Hamburg forscht an der Schnittstelle von Technik und Kunst

05.01.2011

KerstinSchaefer promoviert am Graduiertenkolleg der TU Hamburg über die"Kulturtechnik des Fliegens".
Kerstin Schaefer promoviert am Graduiertenkolleg der TU Hamburg über die "Kulturtechnik des Fliegens".
Foto: TUHH/Jupitz

"Die Aschewolke war das Beste, was mir passieren konnte", sagt Kerstin Schaefer. "Viele waren verzweifelt, aber ich habe mich wahnsinnig gefreut und bin sofort zum Flughafen gefahren." Die 31-jährige Kulturanthropologin erforscht als Promotionsstipendiatin des an der TU Hamburg beheimateten Graduiertenkollegs "Kunst und Technik" die Kulturtechnik des Fliegens. Interessant wird es bei ihren Forschungen immer dann, wenn etwas nicht funktioniert.

Wie beim Ausbruch des isländischen Vulkans unter dem Eyjafjalla-Gletscher, der den Flugverkehr in Europa tagelang lahmlegte. Prozesse, die normalerweise unauffällig und unsichtbar ablaufen, wurden plötzlich sichtbar. "Mit der Aschewolke ist deutlich geworden, welche verschiedenen Bereiche unseres Alltags vom Fliegen berührt werden", sagt Schaefer. "Plötzlich verwelken in Kenia Rosen, weil sie nicht rechtzeitig nach Amsterdam auf den Blumenmarkt kommen. Hochrangige Politiker müssen beim Begräbnis von Lech Kaczynski fehlen. Große Sportveranstaltungen werden abgesagt und Urlauber sitzen fest." Als beeindruckendstes Bild hat sich bei ihr damals der Hamburger Flughafen im fast komplett leeren Zustand eingeprägt.

Das Thema ihrer Dissertation "Kulturtechnik des Fliegens" entstand aus ihrer Magisterarbeit. Darin ging es um den Hamburger Metrobus 13, der den Stadtteil Wilhelmsburg von Norden nach Süden durchkreuzt. Schaefer untersuchte die "Wilde 13", wie der Bus von den Fahrgästen genannt wird, als Spiegel des Stadtteils und fragte sich dabei: Wie verhalten sich die Menschen im Bus? Worüber unterhalten sie sich? Wie sehen sie aus? Was transportieren sie darin? Sie entdeckte ihr Faible für mobile Räume, Transiträume und Nicht-Orte und bekam Lust, das Thema auszuweiten. "Ich hatte das Gefühl, dass sich im Bereich des Fliegens viel verändert hat in den letzten zehn Jahren. Der 11. September, Billigfluggesellschaften, die Globalisierung", sagt sie. Eine kulturwissenschaftliche Untersuchung, inwiefern das Fliegen Teil unseres Alltags geworden ist, wie es unsere Identitäten, Handlungsmuster und Routinen verändert, gibt es noch nicht. "Und so bin ich vom Bus zum Flugzeug gekommen", berichtet sie.

Seit einem Jahr ist Kerstin Schaefer Stipendiatin des Graduiertenkollegs Kunst und Technik an der TU Hamburg. Die darin praktizierte interdisziplinäre Forschung von Geistes- und ingenieurwissenschaften zeigt sich an ihrer Arbeit exemplarisch. Denn technische Standards und Ästhetik vereinen sich beim Fliegen zwangsläufig, sei es beim Flugzeug- oder beim Flughafenbau. Schaefer bezeichnet ihre Forschung am Graduiertenkolleg als "gelebte Interdisziplinarität" und führt als Beispiel ein Gespräch mit einem Architekten und einem Bauingenieur über das Fliegen an, in dem sie deren unterschiedliche Sichtweisen auf ihr Thema kennenlernte. "Ich merke jetzt schon, dass meine Arbeit ohne den Austausch über unsere Arbeitsweisen eine völlig andere wäre. Da sagt zum Beispiel der Architektur-Professor Fusi zu mir: „Fliegen ist doch eigentlich nur eine Abfolge von Räumen: Großer Raum Flughafen, kleiner Raum Gate, noch kleinerer Raum Flugzeug.’ Auf diese Perspektive wäre ich allein nicht gekommen."

"Zwischen Departure und Arrival" heißt es darum auch im Untertitel ihrer Dissertation, denn um das Fliegen und das Flugzeug zu verstehen, muss man auch die Übergänge, den Flughafen, mit im Auge haben. Diesem Mikrokosmos hat sie sich bei ihren Feldforschungen durch einen sechswöchigen Arbeitsaufenthalt am Hamburger Flughafen genähert. Sie reinigte nachts Flugzeuge, arbeitete in der Telefonzentrale und schaute den Flugzeuglotsen und dem Sicherheitsdienst über die Schulter. Sie bekam mit, dass die Zahl der unbegleitet fliegenden Kinder, die zum Ferienende am Flughafen betreut werden, die Zahl der Scheidungskinder widerspiegelt. Und sie trat als Teil der unterbesetzten Putzcrew als Forscherin in den Hintergrund. "War ich beim Ausleeren der Sitztaschen zu langsam, wurde ich angeschnauzt. Es war wichtig, teilzunehmen, um die Abläufe und letztendlich das Flugzeug zu verstehen." Ist sie durch ihre Forschungsarbeit zur Vielfliegerin geworden? "Ich hasse Fliegen und habe Flugangst", gesteht sie und lacht.

Kerstin Schaefer ist Promotionsstipendiatin des an der TUHH seit 2005 angesiedelten Graduiertenkollegs "Kunst und Technik". Kunst, verstanden als Kulturwissenschaft, bezieht sich im Doktorandenkolleg auf Fragen der Gestaltung und der Wahrnehmung, während die Technik den jeweiligen Gegenstand, der im Zentrum der Forschung steht, im Blick hat. Das gemeinsame Forschungsinteresse der neun Doktoranden und fünf Professoren der TU Hamburg, der Universität Hamburg sowie der Hafen City Universität aus den verschiedensten Fachdisziplinen ist die Bedeutung von Material und Form in Kunst und Technik. Die Inhalte der Forschungsprojekte reichen von Recycling-Kunst und "intelligenten" Autositzen über Raum und Atmosphäre in der Architektur und "anpassungsfähige" Tragwerke für den Hochhausbau bis hin zur Kulturtechnik des Fliegens.

Kerstin Schäfer präsentiert gemeinsam mit Kollegen des Promotionskollegs ihre Forschungsarbeit am 18. Januar ab 18 Uhr im Foyer des Audimax II anlässlich der Ringvorlesung "Vom Nützlichen und Schönen - Begegnungen von Technik und Kunst". Thema des Abends ist "Standortfaktor Kunst". Der Leiter der Deichtorhalle Hamburg, spricht im vierten Teil dieser öffentlichen Vorlesungsreihe, die vom Graduiertenkolleg "Kunst und Technik" auf Initiative der jungen Kunstinitiative an der TUHH durchgeführt wird. Über "Privatsammler und Museen" spricht am 25. Januar 2011 Dr. Harald Falckenberg.

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